Theater und Popkultur.

 

Vortrag:

Technische Universität Dresden. WS 2003/04.

1. Dramaturgie

(…) Mittlerweile sind die einzige Reservate in denen sich Dramaturgen noch in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten lassen, Oper und Schauspiel. Und auch dort sind sie bedroht, denn in Zeiten der Geldnot, der daraus resultierenden kommunalen Sparzwänge und fortschreitender Strukturveränderungen und Stellenstreichungen an Theatern, wurden etliche Dramaturgen zum Abschuss freigegeben. Und das nicht, weil man ihre Arbeit nicht schätzte, sie objektiv schlecht waren oder die Geschäftsführer und Intendanten die Dramaturgie insgesamt als entbehrlich ansahen. Der Hauptgrund war: Man konnte sie entlassen, da sie vertraglich und tarifrechtlich als Künstler gelten. Ihre Verträge sind niemals unbefristet, die Regeldauer eines solchen Vertrags beträgt zwei Jahre. Damit unterschieden sich ihre Verträge von denen der Bühnentechniker und Verwaltungskräfte, die als Beschäftigte im öffentlichen Dienst einen extremen Kündigungsschutz genießen, den ein Schauspieler oder ein Dramaturg erst nach 15 Jahren Beschäftigung an einem einzigen Theater erreichen kann.

Augenblicklich arbeiten in den 151 Staats-, Stadt- und Landes-Theatern in Deutschland weniger als 300 Schauspiel-Dramaturgen. Vor zwanzig Jahren waren es noch doppelt so viele. Hinzu kommen noch ein paar Freiberufler in der Off-Szene, eine ganze Reihe von Operndramaturgen und Kollegen die ausschließlich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit machen.

Das Berufsbild hat sich allerdings in den vergangenen Jahrzehnten verändert, und die Duden-Definition ist haltlos veraltet. Wir sind heute weniger „literarische Berater“, sondern vor allem Kommunikatoren und manchmal Manager.

Die Dramaturgen alter Schule, kurzsichtige Philologen, die in Bibliotheken Monatelang über Goethes wahrer Intention der Iphigenie brüten konnten, und viel Platz hatten ihre Ergebnisse in Programmbüchern zu veröffentlichen, sind selten geworden. Auch die Kollegen, die als treue Begleiter einem Regisseur über Jahrzehnte zur Seite stehen, gibt es fast nicht mehr. Heutzutage ist die Dramaturgie vielmehr eine Vielseitigkeitsprüfung, und die Bezeichnung „Produktionsdramaturg“ führen wir vor allem deshalb gern, um deutlich zu machen, dass wir uns eine Position in der Nähe der Proben und weniger in unserem Büro wünschen.

Übliche zentrale – aber nicht-künstlerische – Tätigkeitsfelder eines Dramaturgen sind: Pressearbeit, Marketing, Publikumspflege. Hinzu kommen Vermittlung zwischen den Produktionen und dem Theater, Mitwirkung bei der Spielplangestaltung und Konzeption, Organisation und Durchführung aller möglicher Beiprogramme. Allerdings gehen immer mehr Theater dazu über, Marketing- und PR-Fachleute einzustellen, um die Werbung und die Kommunikation mit den Medien Fachleuten anzuvertrauen. Zwar ist diese Entwicklung insgesamt zu begrüßen, aber sie ist ebenfalls ein Grund dafür, warum die Zahl der Dramaturgenstellen schrumpft.

Im anzustrebenden Idealfall ist die Dramaturgie der ständig tagende Think-Tank eines Theaters. Sie kann ein der Ort sein, an dem Ideen entwickelt werden, die ins Theater und darüber hinaus ausstrahlen und dessen Bedeutung im gesellschaftlichen Gefüge einer Stadt oder einer Region bestimmen. Die Dramaturgen wählen gemeinsam mit der Theaterleitung Regisseure und Stücke aus, sie erstellen gemeinsam mit den Regisseuren dann Konzepte für eine Inszenierung, sie wirken an der Strichfassung eines Textes mit. Sobald die Proben begonnen haben, begleiten sie die Arbeit als kritische Beobachter und nehmen die Positionen des „ersten Zuschauers“ und des „ersten Kritikers“ ein. Sie bestätigen Prozesse oder stellen sie in Frage. Aber bei allen diesen Aufgaben müssen sie den Regisseur als „Chef im Ring“ akzeptieren und dürfen seine Kompetenzen nicht untergraben, denn das erste Ziel der dramaturgischen Arbeit ist es, einen Regisseur bei der Erreichung seiner ästhetischen Visionen zu unterstützten. Um ein Beispiel zu bemühen: Im Prozess der Proben ist der Regisseur der König und der Dramaturg sein erster Minister. Wer selber Regie führen will, ist völlig falsch in diesem Beruf.

Um diese Aufgaben gut erfüllen zu können, benötigen Dramaturgen ein spezielles Wissen und besondere Fähigkeiten. Die Erwartungen, die an uns gestellt werden, sind in der Regel hoch und wir müssen uns ständig zur Decke strecken, um ihnen gerecht zu werden. Die Schlüsselqualifikationen sind aber in jedem Fall eine gesunde Allgemeinbildung, Kenntnis und Durchdringung der Theaterpraxis, genaue Kenntnis der dramatischen Literatur, Interesse an philosophischen Fragen, soziologischen Zusammenhängen und kulturellen Phänomen, ein politisches Bewusstsein und psychologisches Geschick im Umgang mit Intendanten, Regisseuren und Schauspielern. Zusätzlich muss man stilsicher schreiben können und sollte darin auch schnell sein. Weiterhin werden persönliche Integrität, Fairness, Kritikfähigkeit und Flexibilität erwartet. Und natürlich die unbedingte Bereitschaft, sein ganzes Leben den Zwängen des Theaters unterzuordnen. Auch wenn man alle beschriebenen Fähigkeiten besitzt, sind ideale Arbeitsbedingungen schwer zu erreichen und eventuell muss man sich damit zufrieden geben, den Regisseuren ein verlässlicher Partner zu sein, Hilfestellungen zu geben, Spannungen abzufangen, Material zu besorgen und bereit und in der Lage sein, jede mögliche Frage zu ahnen und auch beantworten zu können, ganz egal wie abseitig sie erscheint.  Aber ein Dramaturg kann auch sehr viel Pech haben und an einem Theater landen, an dem die Arbeit an Inhalten so sehr in den Hintergrund tritt, dass die Chefdramaturgin einer mittleren westdeutschen Landesbühne den Aufgabenbereich des zweiten Dramaturgen an ihrem Haus folgendermaßen umschreiben konnte: „Das Foyer schön machen und mit Journalisten telefonieren.“ Nun ja... Das kann es nicht sein.

Das TIF ist ein echtes Dramaturgen-Theater, das bedeutet, dass es keinen Regisseur gibt, der die ästhetischen Leitlinien des Theaters bestimmt. Deshalb kommt die Arbeit am TIF dem beschriebenen Idealzustand schon sehr nah. Dass sie ihn nicht erreichen kann, liegt nur daran, dass alle Dramaturgen bei uns eine „Zweitbeschäftigung“ haben, die mehr oder weniger gut zur Dramaturgie passt, aber in jedem Fall eine Menge Arbeitszeit auffrisst. Eine Kollegin kümmert sich zusätzlich um die Öffentlichkeitsarbeit, eine Andere ist als Künstlerische Leiterin mit Administration und Lobbyarbeit beschäftigt, und ich übernehme die Aufgaben eines Disponenten und organisiere die Proben und erstelle die Spielpläne. Insgesamt verstehen wir uns als Team: Alle Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, und um dieses Ziel zu erreichen, nehmen wir uns viel Zeit für Diskussionen. Und kurz vor einer Premiere stellen wir das gesamte Know-How des TIF den Regisseuren zur Verfügung und in den Dienst jeder Produktion. Wenn ein Regisseur sich an anderen Theatern darüber beschweren mag, dass er seinen Dramaturgen in den Endproben eigentlich nicht zu sehen bekommt – bei uns hat er plötzlich drei. Manche finden die von uns verlangte Gruppenkritik nach jeder Hauptprobe ermüdend, aber die meisten Regisseure nehmen diese Dienstleistung unseres Theaters dankbar an.  Das TIF – oder mit vollem Namen das Theater in der Fabrik – ist die kleinste Spielstätte des Staatsschauspiel Dresden. Es existiert unter diesem Namen und an der Tharandter Straße bereits seit zehn Jahren. Am Anfang war es eine Studiobühne mit einem festen Regisseur. Vor sechs Jahren begann Eva Johanna Heldrich als Künstlerische Leiterin, und die Strukturen wurden verändert: Echte künstlerische Unabhängigkeit und Budgethoheit wurden festgeschrieben. Darum können wir seitdem selbständig planen und auch in der Öffentlichkeit durch ein eigenes Corporate Identity, das auch einen eigenen Spielplan beinhaltet, die Besonderheit unseres Theaters im Gefüge des Staatsschauspiels unterstreichen. Am TIF arbeiten in der Kunst – neben den drei Dramaturgen – noch eine Dramaturgieassistentin und ein Regieassistent. Diese personelle Ausstattung ist für ein Theater unserer Größe luxuriös und ermöglicht es uns, viel enger mit den Regisseuren zusammenzuarbeiten, als es leider üblich ist.

Wir haben ein strenges Konzept entwickelt, das die Gestaltung unseres Spielplans bestimmt und auf bestimmten Essentials fußt: Wir möchten heute Theater für heute machen, und die Gegenwart durch unsere Arbeit begleiten. Wir spielen ausschließlich Gegenwartsautoren (ob Dramatiker oder nicht). Wir beschäftigen nur Regieanfänger.

Und wir glauben mit Vehemenz daran, dass das Theater keine altmodische Veranstaltung für die Generation jenseits der 50 ist. Unser Konzept bewegt sich so zwischen akuter Zeitgenossenschaft und vorsichtiger, gezielter Nachwuchsförderung. Durch diese Festlegungen haben wir es geschafft, das TIF in der vielfältigen Dresdner Theaterszene zu verankern und auch bundesweit unverwechselbar zu machen. Wir gelten als gute Adresse, und die Regisseure, die bei uns produzieren, haben zu schätzen gelernt, dass wir ihnen gleichzeitig die Sicherheit und Berechenbarkeit eines Staatstheaters und eine große Freiheit von formalen und ästhetischen Zwängen bieten, die sie sonst nur in der Freien Szene finden.

Mittlerweile inszenieren viele der Regisseure, die bei uns angefangen haben, auch an großen deutschsprachigen Bühnen. Die Verlage überlassen uns gern Stücke zur Erst- oder Uraufführung, da sie darauf vertrauen können, dass wir mit den Texten, für die wir uns entscheiden, verantwortungsvoll umgehen. Das meint auch, dass wir keinen Regisseur zwingen, einen Text zu inszenieren, denn wir sind der Ansicht, dass ein Künstler – trotz aller Professionalität – eine Beziehung zum Thema seiner Arbeit haben muss. Und nur wenn sich ein Regisseur eindeutig für einen Text entscheiden kann, wird er bei uns auch produziert. Bei der Auswahl unserer Stücke und Stoffe zeigen wir eine große Durchlässigkeit und Offenheit, denn ein großer Teil unserer Produktionen bearbeitet kein fertiges Theaterstück: Romanadaptionen, Projekte und Stückentwicklungen mit oder ohne Autor erweitern unseren Spielplan, und eröffnen uns Themenbereiche, die wir in aktuellen dramatischen Texten nicht wiederfinden. (...)

 

2. Theater und Popkultur

Das Theater ist ein altes Medium, dessen Erfindung im Dunkel der Menschheitsgeschichte verloren ist. Aber man kann ohne zu übertreiben sagen, dass es in jedem Kulturraum existiert, wobei sich jedoch die Ausprägungen von einander deutlich unterscheiden können. Als Konstante lässt sich jedoch eines feststellen: „Theater ist das Spiel von Wenigen zur Erbauung, Instruktion oder Unterhaltung Vieler, mit festgelegten Rollen und/oder festgelegten Texten, wobei Produktion und Rezeption gleichzeitig stattfinden.“ Das ist jetzt komplizierter formuliert als es wirklich ist, ich hätte auch sagen können: Wir spielen für Sie, und das live.

Das Theater ist (nach dem Tanz) die ursprünglichste darstellende Kunstform, die sich bis heute erhalten hat. Und trotz aller gesellschaftlicher Entwicklungen und politischen Veränderungen, trotz aller technischer und inhaltlicher Innovationen, und auch wenn sich die Sehgewohnheiten des Publikums mehrfach veränderten, ist das Theater im Kern noch genauso, wie es immer war.  Im europäischen Kulturraum hat sich das, was wir heute unter Theater verstehen, aus dem klassischen griechischen Vorbild entwickelt und ist damit 2500 Jahre alt. Damals war Theater so etwas wie Gottesdienst, Volksfest und Bürgerpflicht in einem. Heute befremdet uns die Vorstellung etwas, dass in Athen zu den Vorstellungen die gesamte männliche, erwachsene und wahlfähige Bürgerschaft erschien oder besser erscheinen musste. (Doch verloren auch dort die Aufführungen in späteren Jahren an Anziehungskraft und man ging dazu über, die Bürger der Polis für ihren Theaterbesuch finanziell zu entschädigen und ihren Verdienstausfall zu erstatten – und das befremdet heute erst recht.)

Mit dem Beginn in Athen war der Weg des Schauspiels in Europa für die kommenden zwei Jahrtausende vorgezeichnet, und noch immer sind die „großen Themen“ eigentlicher Kernpunkt der Auseinandersetzung des Theaters als künstlerischer Ausdrucksform. Allerdings definiert jede Generation neu, was denn ein Thema „groß“ macht. Wenn für Aischylos noch die Frage „Wie lernt der Mensch, das unentrinnbare Schicksal zu meistern?“ von zentraler Bedeutung war, versuchen die aktuellen Theaterautoren in ihren Texten zu ermitteln, wie sich in einer unübersichtlichen Gesellschaft die Identität und Authentizität des Einzelnen konstituiert. Und noch eine Erbschaft haben wir von den Griechen gemacht: Der Vorsokratiker Protagoras lehrte: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, wofern sie sind, dafür, dass sie sind, und wofern sie nicht sind, dafür, dass sie nicht sind.“ Auch heute verfolgen Theaterautoren und Regisseure eigentlich immer, den Lebensweg oder das Schicksal eines Menschen, lassen ihn hoffen, lassen ihn lernen, lassen ihn scheitern. Das, und genau das, stellt trotz aller Entwicklungen und Veränderungen eine durchgehende Verbindungslinie zwischen Aischylos, Shakespeare, Ibsen, Brecht, Heiner Müller und Sarah Kane dar. Und einen weiteren Hinweis geben uns die alten Griechen: den Namen unserer Kunstform nämlich. Aber das theatron war nicht etwa die Bühne oder das Gebäude, in dem gespielt wurde, insgesamt. Vielmehr bezeichnet theatron ausschließlich den Zuschauerraum – und gibt so eine erste Spur, die es zu verfolgen gilt, wenn man sich mit dem Verhältnis von Theater und Pop-Kultur auseinandersetzen will. Es scheint nämlich so zu sein, dass Theater kein Selbstzweck ist, sondern für die Zuschauer stattfindet.

Die Anfänge des europäischen Theaters in der Antike waren kultisch geprägt und über alle Maßen staatstragend. Erst im 19. Jahrhundert emanzipierte sich das Theater im Ganzen und das Schauspiel im Besonderen von seinen Finanziers. Die Theaterschaffenden hörten auf, ein vorgegebenes Weltbild oder eine opportune politische Gesinnung durch Wiederholung auf der Bühne zu festigen. Das Theater erkämpfte sich so eine neue gesellschaftliche Rolle: Es beschrieb die Wirklichkeit in einer ungeschönten Weise, es wies Auswege in eine bessere Zukunft. Es wurde ein Raum für Spinner, Träumer und Visionäre. Es wurde politisch. Das ist eine Tradition, an die wir uns gerne erinnern, und die wir auch heute noch zu pflegen versuchen.

Eine Andere aber scheinen wir manchmal zu vergessen: Es gibt auch Theater neben der Tragödie, also neben dem ernsten Spiel mit „großen Themen“, also neben der Produktion von Weltanschauung auf der Bühne, also neben der niemals endenden Arbeit, dem Wesen und Wirken des Menschen auf den Grund zu gehen. Die ganze europäische Theatergeschichte zeigt, dass Theater auch unterhaltsam sein kann, dass es zur Weltflucht animieren kann, dass es komisch und lustvoll sein kann, dass es nicht vom Zuschauer verlangt, schlauer zu sein als alle Mitwirkenden, um zu verstehen, was da vorn geschieht. Oder einfacher: es gibt auch Theater fürs Herz und für den Bauch, nicht nur für das Hirn.

Wenn ich gerade gesagt habe, dass wir das zu vergessen scheinen, dann spreche ich vor allem vom Schauspiel. Wir überlassen die Unterhaltung gern mal den Kollegen von Operette oder Musical, von Kabarett oder Zirkus und zunehmend von Fernsehen und Film. Wir scheuen uns auch nicht, die Arbeit der Kollegen, als seicht, leicht oder unerheblich abzuqualifizieren. Egal was sie tun, und auch wenn sie mit ihrer Arbeit das Publikum begeistern, da es nur Unterhaltung ist, müssen wir es nicht ernst nehmen. Denn wir sind ja Künstler. Und dabei vergessen wir dann, dass wir alle die gleichen Wurzeln haben, und nur die Zusammenschau aller darstellender Künste das ergibt, was wir großspurig „die unverwechselbare“, „die in der Welt einmalige“ oder „die schützenswerte“ deutsche Theaterlandschaft nennen.

Aber manchmal gelingt auch beides: die Vermittlung „großer Themen“, die gleichzeitig unterhaltsam und packend ist. Und in diesen Momenten beginnt man wieder an das Theater zu glauben. Dann weiß man, dass es eine Zukunft hat. Solche Inszenierungen sollten unser Ziel sein. (...)

In der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts verlor das Theater unwiederbringlich die Monopole des öffentlichen Geschichtenerzählens und der Illusionserzeugung an Film und Fernsehen. Die beiden damals neuen Medien bedienten sich in ihrer Anfangszeit massiv dem Personal und den darstellerischen Traditionen des Theaters. Das Stück „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams wurde erst am Broadway in einer Bühnenversion produziert und dann erst mit annähernd der gleichen Besetzung zu einem Film. Nur langsam konnten erst Film und dann Fernsehen eine eigenständige Ästhetik entwickeln. Und noch am Ende der Siebzigerjahre waren in der alten Bundesrepublik Theateraufzeichnungen im Fernsehen am Samstagabend ganz normal. Gleichzeitig gab es einen regen Austausch zwischen Theater und Autorenfilm.

Die Einführung des privaten Fernsehens hat das Theater als Programmbestandteil der öffentlich rechtlichen Sender (Aufzeichnung, Fernsehspiel) an Rand gedrängt. Es ist aus dem virtuellen Raum größtenteils verschwunden und wieder in die Sicherheit und Begrenztheit der Schauspielhäuser und Opernhäuser verbannt worden, wo es keine Massenwirkung mehr hat. Und als einzige theatralen Äußerungen im Fernsehen finden sich noch Comedy und Gerichts-Shows.

Und natürlich muss ich hier auch erwähnen, dass das Schauspiel, und hier meine ich gleichzeitig das Gebäude im Verbund einer Stadt, die Organisationsform und das rezipierbare Produkt, ein Ort bürgerlicher Selbstvergewisserung und Repräsentation ist. In diesem Zusammenhang zeigt sich zunehmend, dass die ästhetischen Erwartungen des Theaterpublikums oft altmodischer sind, als die Vorstellungen von Regie, Dramaturgie und Schauspielensemble. Man kann überspitzt sagen: Je beeindruckender das Gebäude eines Theaters ist, je deutlicher es architektonisch einer vergangenen Zeit angehört, desto stärker wirkt der konservative Druck des Publikums auf die, die dort arbeiten. Das Theater kann nun auf unterschiedliche Weise reagieren: Es kann sich diesem Druck ergeben, das Publikum bedienen, und sich so langsam von seiner Rolle als lebendiger Kunstform verabschieden. Es muss sich dann eindeutig der Werktreue verpflichten und außergewöhnliche Regiehandschriften oder radikale Klassikerinterpretationen unterdrücken. Es wird zu einem Museum.

Eine andere Möglichkeit verlangt von beiden Parteien mehr Mut – und die Bereitschaft Risiken einzugehen. Besteht das Theater darauf, gesellschaftlich bedeutsam zu sein, muss es wagen, ästhetisches Neuland zu betreten. und damit manchmal die Seherwartungen des Publikums enttäuschen. Aber so – und ich bin der Überzeugung nur so – kann es etwas Neues schaffen, kann es die Gegenwart als kritische Stimme begleiten. Und nach einer gelungenen Vorstellung kann es dann das Publikum mit Fragen im Kopf nachhause entlassen, die weiterarbeiten und sich festsetzen. Und dann man kann beruhigt und sicher sein: Die Zuschauer werden wiederkommen. (...)

Ich möchte Sie noch einmal an meine Definition von Theater erinnern: Theater ist das Spiel von Wenigen zur Erbauung, Instruktion oder Unterhaltung Vieler, mit festgelegten Rollen und/oder festgelegten Texten, wobei Produktion und Rezeption gleichzeitig stattfinden. Versucht man nun diesen Satz so umzuformulieren, dass er auf das Phänomen POP zutrifft, erhält man etwa: POP ist das Spiel von Einzelnen zur Unterhaltung Aller und zur Gewinnmaximierung der Produzenten, das Bekanntes vervielfältigt, wobei Produktion und Rezeption in keinerlei zeitlichem oder räumlichen Zusammenhang stehen müssen.

Es gibt in diesen zwei Sätzen immerhin vier Übereinstimmungen: Spiel, Unterhaltung, Produktion und Rezeption, aber trotzdem sind sie deutlich voneinander unterschieden. Es spricht einiges dafür, dass keine Form des Theaters Teil der Pop-Kultur ist oder sein kann, solange es seine provozierende Kraft und kritische Haltung nicht aufgibt. Solange es auf die Live-Erfahrung des Publikums setzt. Solange es ästhetischen Innovationen probiert. Oder solange es noch Theater ist. Aber kulturelle Phänomene befinden sich nicht in einem eingefrorenen statischen Zustand. Kulturelle Phänomene sind immer auch gesellschaftliche und beeinflussen sich dort, wo sie aufeinandertreffen. Und da POP ja eine allgegenwärtige Erscheinung ist, sollte man meinen, dass er eine spürbare Wirkung auf die Theater-Produktion der vergangenen Jahrzehnte haben müsste. Und wirklich, Theaterregisseure nutzen gern die Erzeugnisse der Pop-Kultur: wenn sie in ihren konventionellen Inszenierungen ihre private CD-Sammlung verarbeiten, wenn auf der Bühne plötzlich eine Talk-Show simuliert wird, wenn unzählige Lifestyle-Accessoires auftauchen oder wenn die Schauspieler offensichtlich alle bei H&M einkaufen waren, bevor sie aufgetreten sind. Selten macht es Sinn, manchmal erzeugt es eine Atmosphäre vordergründiger Modernität. Aber im schlimmsten Fall zeigt sich in diesen Übernahmen aus dem POP eine inhaltsleere Beliebigkeit der Mittel, die aus dem Missverständnis erwächst, dass das was im Fernsehen, im Kino oder in der Werbung funktioniert, auch auf der Bühne funktionieren wird. Die Ergebnisse sind dann jedoch nicht POP, sie sind schlecht. Und sie werden mir zustimmen: Kino ist im Kino besser. (...)

Ich habe eingangs erwähnt, dass sich das TIF einer radikalen Zeitgenossenschaft verschrieben hat. Das bedeutet auch, dass wir uns als Teil der Welt verstehen, und nicht als Teil der durch Konventionen geschützten Tradition. Deshalb zeigen wir in unseren Arbeiten erstaunlich wenig Berührungsängste zu aktuellen Strömungen der Pop-Kultur. Unsere Autoren, unsere Regisseure und auch wir selbst suchen Inspirationen und Visionen in der Gegenwart und in der Welt, die uns umgibt. Wir versuchen Fragen zu formulieren, die für unsere Zeit repräsentativ sind, und Hilfsstellungen zu geben, um eine Antwort zu finden. Da wir den klassischen Kanon der Theaterliteratur ignorieren, schützen wir uns davor, museal zu werden oder bewährte Muster bis in die Unendlichkeit zu wiederholen. Die jungen Regisseure des TIF sind noch unerfahren genug, dass sie, wie es scheint leichtfüßig, Theatergesetze übertreten, um zu neuen, eigenen Ergebnissen zu kommen. Wir bestärken sie bei dieser Suche nach einem persönlichen Stil. Genauso respektlos, wie sie mit den vorgeblichen Zwängen des eigenen Mediums umgehen, bedienen sie sich im Fundus der Pop-Kultur, extrahieren bestimmte Elemente, kombinieren sie neu oder stellen sie in andere Kontexte. Sie schaffen so assoziative Klammern, die das Verständnis der behandelten Stoffe erleichtern, und das Bühnengeschehen an die Zuschauer heranrücken. Da sie die Sehgewohnheiten unseres Publikums aus eigener Erfahrung kennen, wissen sie genau, wann ein Zitat angemessen ist. Und dort wo sie es nicht wissen, versuchen wir Dramaturgen zu helfen. So seltsam es klingen mag, wir haben uns einen respektvollen Umgang mit den Erzeugnissen des POP angewöhnt, denn sie können gefährlich sein. Ein falsches Zitat kann eine ganze Szene ruinieren, wenn es Assoziationen auslöst, die der Interpretation des Regisseurs nicht entsprechen. Je aktueller die verwendete Musik, die übernommene Filmsequenz o. ä. ist, desto größer ist die Gefahr.

Diese Arbeitsweise ist natürlich in der Regel nicht die Grundlage einer Inszenierung, aber Musik, Video, zitierte Gesten, Fremdtexte aus Drehbüchern und zitierte Figurenkonstellationen zeigen dem Publikum, dass ein Theaterabend nicht nur etwas illusionistisch vorspielt und, sondern das Publikum auffordert sich an einer Suche nach den Bezügen zwischen Spiel und Welt zu beteiligen. Inszenierungen, die so strukturiert sind weisen immer über den Theater als Spielort hinaus und können zur Beschreibung und Interpretation gesellschaftlicher Zustände benutzt werden, ohne didaktisch zu wirken. (...)

Ähnlich wie der Film in seiner Anfangszeit Theatermittel übernehmen musste, um das Publikum an sich zu binden, können wir heute für unsere Inszenierungen Anleihen an die Pop-Kultur machen, Anregungen finden und Material ausborgen, um neue Erzählweisen im Theater zu etablieren und überkommene Traditionen zu überwinden. Das Theater wird dadurch nicht schwächer, sondern gewinnt eine weitere Facette hinzu. Aber es wird niemals selber POP.

Wenn die negativsten Umfragen wahr sind, betreiben die Theater ihre Arbeit für schmale 10 Prozent der Bevölkerung, die noch regelmäßig Vorstellungen besuchen, und diese 10 Prozent sind auch noch ziemlich alt. Aber ein neidischer Blick auf die Kollegen der elektronischen Medien und die Interpreten des POP, die ihr Publikum problemlos zu finden scheinen, hilft niemandem. Genauso wenig wie das arrogante Beharren darauf, dass wir die Hüter der Hochkultur sind, die die Kunst in Zeiten des ästhetischen Niedergangs gegen die Barbaren aus Amerika mit ihrem Popcorn und ihren Blockbustern verteidigen.

Dass die Theater in dieser Situation beginnen, PR und Marketing für sich zu entdecken, ist sicherlich zu begrüßen. Im scharfen Wettbewerb um die Publikumsgunst bestünde sonst die Gefahr, durch Unauffälligkeit unterzugehen. Aber man kann nur für ein Produkt erfolgreich werben, das definiert ist und sich von den Konkurrenten unterscheidet. Ein Theater braucht eine Identität, die es für die Zuschauer in seiner Eigenart und Besonderheit berechenbar macht. Wir müssen die Unterschiede zu Film und Fernsehen deutlich hervorheben, und dürfen auf keinen Fall versuchen sie zu verschleiern, in dem wir uns auf die Kopien modischen Schnickschnacks verlassen. Es ist wahr, dass wir versuchen müssen, wieder Teil des öffentlichen Diskurses zu werden. Allerdings nicht so, wie in den vergangenen Jahren, wo ein großes Jammern über die Finanzmisere der Städte oder unendliche Diskussionen über Theaterschließungen einsetzten. Theater müssen wieder für weitere Schichten der Bevölkerung attraktiv werden, wenn sie überleben wollen. Eine Chance der Attraktivitätssteigerung liegt in einem echten Bekenntnis zur Gegenwart. Eine werktreue Klassikerinszenierung mag zwar handwerkliche Qualitäten besitzen, aber wenn sie die Frage nicht beantworten kann, warum ein Theater es wichtig findet, diese und nur diese Geschichte zu erzählen, ist sie sinnlos. Wir dürfen nicht vergessen, dass im Zuschauerraum Menschen sitzen, die ihr Leben reflektieren und eigene Erfahrungen gemacht haben und die erst genommen werden wollen. Wenn wir es nicht schaffen auf diesen Erfahrungen aufzubauen und das Publikum immer aufs Neue mit seinen eigenen Hoffnungen und Ängsten zu konfrontieren, sollten wir die Theater selber schließen.