Ein Dramaturg organisiert das Theater – und die Technik dankt.

 

veröffentlicht in:

Eva J. Heldrich u. Marcel Klett (Hgg.), TIF / Theater in der Fabrik 1998-2004. Berlin 2004, S. 48-50.

Ein erster Eindruck

Im Januar 2001 war in „Theater heute“ folgende Anzeige zu lesen: „Das Staatsschauspiel Dresden sucht für das Theater in der Fabrik eine/n Dramaturgen/in mit Dispositionsaufgaben (KBB)“. Hübsche Idee, dachte ich, als ich diese Anzeige las, und konnte ich nicht glauben, dass sie ernst gemeint war. Denn wenn es zwei Aufgabenbereiche im Theater gibt, die sich für mein Empfinden ausschlossen, dann sind es Dramaturgie und Disposition. Ich sollte erfahren, wie sehr ich mich damit irrte, und wie gut sich diese Schlüsselaufgaben in kleinem Rahmen ergänzen können. Als ich dann doch ein langwieriges Bewerbungsverfahren abgeschlossen hatte, alle TIFler davon überzeugt hatte, dass ich in ihr Team passe und im Mai meine Einarbeitungszeit im TIF-Großraumbüro begann, hatte ich den Eindruck in eine fremde chaotische Struktur einzutauchen. Und die schien auch – obwohl offensichtlich ungeregelt – effizient zu funktionieren. Immerhin hatte das TIF so schon drei Spielzeiten überlebt und ziemlich erfolgreich produziert. Aber es blieben offene Fragen: Ein Büro für vier Mitarbeiter – jeder mit zwei Aufgaben? Keine festgelegten Gesprächstermine – aber trotzdem eine ganze Reihe dringender Probleme? Drei Telefonanschlüsse, ein Faxgerät, ein Kopierer und noch immer nur ein Büro? Nur ein Computer aus der Steinzeit für alle? Keine Verwaltungskraft – nicht einmal eine Sekretärin mit halber Stelle? Ach ja, Layout und Druckvorlagen aller Werbeträger werden hier selbst gemacht? Was, Reservierungswünsche aufnehmen, Eintrittskarten kontrollieren, Abendeinnahmen abrechnen – alles Aufgaben eines TIF-Dramaturgen? Jeder Mitarbeiter kann jederzeit jede Frage an die Chefin stellen, wenn sie nicht gerade telefoniert oder Geschirr spült oder konzentriert Spielpläne kuvertiert? Ich war verwirrt, denn so kann man doch nicht arbeiten: Alle Aufgaben hatten die gleiche Bedeutung. Jedes Detail wurde ernst genommen, und über ein Adverb in Dreizeiler konnte man sich stundenlang die Köpfe heiß reden. Aber nach ein paar Tagen konnte ich dann Strukturen ableiten und einiges wurde plötzlich klarer. Das Chaos im TIF war hoch produktiv und vieles wurde en passant erledigt, bevor es zu einem Problem anwachsen konnte. Die erste Überlebensregel für die Arbeit im TIF-Team schien zu sein: Es gibt keine festgelegte Arbeitszeit (oder: die Arbeit beginnt mit dem ersten Tag der Vertragslaufzeit und endet nach dem letzten). Regel Nummer zwei: Eine Diskussion dauert solange, wie sie dauern muss. Regel Nummer drei jedoch ist die bedeutsamste: Wir schaffen das! Aber da war ich schon vom TIF-Virus angesteckt und sah das Theater und die Welt drumherum bereits durch eine fatalistisch-pragmatisch-optimistische Brille.

 

Disposition heißt Kommunikation

Als Disponent war ich mit einer Aufgabe konfrontiert, für die ich nicht ausgebildet bin. (Glücklicherweise hatte meine Vorgängerin Ans Brockfeld exzellente Arbeit geleistet und Strukturen geschaffen, die sie an mich weitergeben konnte.) Zwar kannte ich die Betriebsbüros verschiedener Theater, aber was genau dort getan wurde, war für mich eins der ungelösten Theatermysterien. Jeder Regieassistent könnte doch Tagespläne schreiben, oder? Ich hatte mich schließlich der weit verbreiteten Meinung angeschlossen, dass Disponenten an Theatern angestellt sind, um die künstlerischen Produktionsprozesse zu behindern. Dieses Vorurteil ist natürlich unbegründet, denn wenigstens eine Stelle in einem Theater muss den Überblick über alle Aktivitäten haben. Ein Korrektiv zwischen den Ansprüchen von Leitung, „Kunst“ und dem Leistungsvermögen aller anderen Abteilungen ist notwendig. Am TIF steckte ich nun als „Dramaturg mit Dispositionsaufgaben“ zwischen Baum und Borke. Ich muss versuchen einen Ausgleich zwischen dem Leitungsinteresse „viele Vorstellungen“ und den Sachzwängen der Technik herzustellen. Meistens funktioniert es gut, denn die Erstellung der Spielpläne erfolgt in enger Absprache mit allen Mitarbeitern. Und nur wenn ich fähig bin den Kollegen jeden kritische Vorstellungswechsel zu begründen, bin ich mit einem Spielplan zufrieden. Diese kritischen Positionen sind bedauerlicherweise nicht allzu selten, denn die Spielpläne entstehen im TIF durch ein Puzzle aus der Verfügbarkeit der Mitglieder des Staatsschauspiel Ensembles (als kleinste Spielstätte haben wir natürlich zuletzt Zugriff auf Schauspieler) und den freien Terminen der zwei Dutzend Gäste. Pro Spielzeit kann das TIF seinem Publikum zwischen 150 und 170 Vorstellungen anbieten, vier bis sechs pro Woche, bei echtem Repertoirebetrieb mit mindestens fünf verschiedenen Stücken in jedem Monat. Das ist natürlich nicht besonders viel, aber unsere Bühnensituation ist außergewöhnlich, denn technisch ist das TIF niemals über ein Provisorium hinausgekommen. Wirkliche bauliche Veränderungen wurden niemals unternommen, als das Gebäude von einer Industrieruine zum Theater umgenutzt worden ist. Wir bespielen zwei eigentlich ungeeignete Räume, denn sie sind zu niedrig und in einem beeinträchtigen Säulen die Sicht. Auf normalen Bühnen bewährte Umsetzungen funktionieren bei uns nicht und oft muss vor Ort improvisiert werden, um ein Bühnenbild ans TIF anzupassen. Es gibt nicht genügend Lagerfläche, die Türen sind zu schmal für Transporte. Jeder Vorstellungswechsel erfordert einen Komplettaus- und Wiedereinbau von Beleuchtung und Ton, sowie meistens einen Wechsel der Zuschauertribüne. Um trotz aller Behinderungen den regelmäßigen Spielbetrieb gewähren zu können, muss unsere technische Mannschaft Unglaubliches leisten: Ein technischer Leiter mit Stellvertreter und drei Bühnenwerkern, zwei Beleuchter, ein Toningenieur sind für alle Vorstellungen und die Betreuung jeder Probe zuständig. Ihr unermüdlicher Einsatz, ihr Erfindungsreichtum und ihre Bereitschaft, den manchmal extrem unkonventionellen Bühnenlösungen unserer Produktionen eine Chance zu geben, hält das Theater am Leben und ist für die Qualität unserer Arbeit der vergangenen Jahre mitverantwortlich.

 

Gedanken zur Struktur

Unser Theater ist ein ungewöhnliches Gebilde: Künstlerisch unabhängig, jedoch organisatorisch Teil des Staatsschauspiels Dresden, und dispositionell als kleinste Spielstätte in einer ständigen Warteschleife. Trotzdem konnte das TIF beweisen, dass es weit mehr als eine  gut ausgerüstete Studiobühne ist. Die künstlerische Autonomie ermöglicht uns freies Theater unter Staatstheater-Bedingungen zu produzieren, und so ein einzigartiges Zusammenspiel von Sicherheit und innovativem Durcheinander anbieten zu können. Das Beharren auf größtmögliche Eigenständigkeit und der feste Glaube daran, dass wir unsere Probleme am besten selbst lösen können, hat das TIF in der Dresdner Theater-Szene verankert. Je nachdem von wo man schaut, zeichnet sich das TIF durch eine äußerst starke oder eine bedauernswert schwache Dramaturgie aus: Dort arbeitet die luxuriös anmutende Zahl von drei Dramaturgen für maximal 99 Plätze und insgesamt sechs bis sieben Schauspielproduktionen pro Spielzeit – im Vergleich zu anderen Häusern paradiesische Bedingungen. Jede künstlerische Frage wird diskutiert und eine Entscheidung erst dann getroffen, wenn alle überzeugt sind. So sind alle Mitglieder der künstlerischen Leitung gleichermaßen für das Gesicht des TIF verantwortlich. Wir wissen genau, was wir tun und warum. Deshalb können wir unsere Stücke gegen Kritik von außen verteidigen und uns schützend vor unsere Regisseure stellen, die gerade ihre ersten Schritte in einem harten und manchmal unmenschlichen Geschäft wagen. Spätestens ab den Endproben verfolgen alle Dramaturgen des Theaters die Fortschritte einer Produktion: Wir schauen zu, wir bewerten, wir bestehen auf Übersichts- und Detailkritik. Auch wenn es zuweilen mühsam und immer langwierig ist, stellen wir das gesammelte Know-How des TIF in den Dienst jeder einzelnen Produktion, wobei nicht die spätere „Verkaufbarkeit“ des Produkts, sondern die Erreichung der ästhetischen Vorgaben von Regie, Bühnenbild und Schauspiel die Vektoren der Beratungen bestimmen. Unser Ziel ist nicht, Regisseure dazu zu bringen, unsere Theatervorstellungen zu bedienen. Wir wollen sie vielmehr ermutigen, ihren eigenen Weg bis zum Ende zu gehen. Doch um das TIF arbeitsfähig zu halten, erfüllt jedes Mitglied des künstlerischen Leitungsteams eine zweite nichtkünstlerische Aufgabe. Diese verschlingt dann einen Großteil der Arbeitszeit und lässt in regelmäßigen Abständen Probenbesuche zu Ausnahmephänomenen werden. Die mühsame Alltagsarbeit für das Theater und eine Wust an zu erledigendem Kleinkram erschwert die Bedingungen noch. Doch gleichgültig wie hoch die Belastung auch sein mag, eine Eigenheit zeichnet das TIF vor vielen anderen Theatern aus. Es ist ein echter Organismus, der nur durch die Zusammenarbeit seiner Teile am Leben bleibt. Da das jeder weiß, rückt man eben zusammen, und am Ende kann sich jeder auf seine Kollegen blind verlassen. Die Hierarchien sind flach, die theaterüblichen Berührungsängste zwischen Kunst und Technik existieren im TIF nicht. Widerspruch und eine eigene Meinung sind nicht gewünscht sondern verlangt. Jeder Erfolg wird gemeinsam gefeiert und jeder Misserfolg gemeinsam ertragen. – Aber was bleibt uns auch anderes übrig? Das TIF ist klein, sehr klein. Man kann sich nicht aus dem Weg gehen, und will man sich zurückziehen, muss man raus auf den Parkplatz. So zur Teamarbeit verdammt, haben wir eben ein ausgeprägtes Wir-Gefühl entwickelt, und das TIF als guten Freund und zweites Zuhause angenommen. Dieses sicherlich emotionale Verhältnis zu einer Arbeitsstelle produziert ein Unmaß an Flexibilität und Engagement bei allen Mitarbeitern, das dann ganz direkt und ungefiltert in unsere Arbeit einfließt. Als Team können wir am TIF Dinge möglich machen und Wünsche von Regisseuren und Bühnenbildnern erfüllen, die eigentlich ein Theater dieser Größe überfordern müssten.  Aber wie schon gesagt: Wir schaffen das!