Theaterhaus Jena - Leitartikel

 

veröffentlicht in:

Theaterhaus Jena - Monatsspielpläne. 2004-2005.

Willkommen im Wilden Westen

Arbeit? Nicht für jeden! Ausbildungsplätze? Nicht hier! Rente? Bestimmt nicht mehr! Angemessene Versorgung bei Krankheit? Nicht für alle! Ideologien? Also, die sind doch wirklich längst Geschichte! Sicherheit, Völkerrecht oder Solidarität? Nicht nach 9-11! – Hätten Sie diese Fragen auch so beantwortet? Dann haben Sie entweder vor der Wirklichkeit kapituliert oder bemerkt, dass im vergangenen Jahrzehnt die Zukunft bereits begonnen hat. In jedem Fall ahnen Sie etwas: ein Gefühl der Unsicherheit macht sich breit, eine Leere umgibt Sie. Seien Sie ehrlich: Sie wissen auch nicht mehr, woran Sie glauben sollen, oder wem Sie vertrauen können.

Sie sind allein, Sie sind auf sich gestellt, Sie wissen genau: Wenn sie jetzt ihr Schicksal nicht in die eigene Hand nehmen, dann ist es zu spät... Dann werden Sie ein kümmerlicher Rest sein, ein Überlebender des zwanzigsten Jahrhunderts, der durch eine schöne neue Welt stolpert. Also: Tun Sie etwas, brechen Sie auf, suchen Sie Ihr Glück. Kaufen Sie sich eine Waffe, machen Sie sich selbständig, definieren Sie ein Ziel, seien Sie authentisch!

Es scheint so zu sein, als hätte der „Westen“ als Gesellschaftssystem endgültig gesiegt, denn es gibt keine politische Alternative mehr. Jetzt sind wir Europäer also alle Westler, ob wir es wollen oder nicht. Und wie verhält man sich korrekt im Westen? Man kauft ein, man macht Schulden, man unterwirft sich klaglos dem kapitalistischen Druck des „sei erfolgreich und mehre deinen Besitz“. Wenn man denn Besitz zum Vermehren hat. Die anderen – die meisten! – träumen nur davon und versuchen in einer Quizshow zu gewinnen. Aber könnte der Westen nicht noch mehr sein? Wir hoffen es. Natürlich hat der Zusammenbruch lieb gewonnener Gewissheiten eine Menge an Leerstellen hinterlassen, die gefüllt werden müssen, um das Zusammenleben hier und in der globalisierten Welt wieder erträglich zu machen. In dieser Situation des Wandels entstehen vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten, die ständig übersehen oder ignoriert werden, da die politischen und gesellschaftlichen Realitäten von Fantasielosigkeit, Feigheit, Lobbyismus und Selbstsucht gekennzeichnet sind. Veränderungen aber erfordern Mut und Visionen! Es ist so leicht den Kopf in den Sand zu stecken, zu verzweifeln und die Gestaltung der eigenen Lebenswelt anderen zu überlassen. Denn dann können wir uns später darüber beklagen, dass es diese anderen nicht besser gemacht haben. Doch damit drücken wir uns davor, selbst Verantwortung zu übernehmen und die Frage zu beantworten: Ist die immer aufs Neue konstatierte Alternativlosigkeit Realität oder sind wir alle nur zu träge (bzw. war die mediale Gehirnwäsche zu massiv), um andere Wege zu sehen?

 

 

ich kämpfe!

»Ich sollte mich wehren – einfach mal sagen, was ich denke. Widerspruch nicht akzeptieren, ich sollte auf meinen Standpunkt beharren. Mich nicht immer unterbuttern lassen. Ich sollte mich wirklich wehren, denn es gibt doch soviel wogegen ich ankämpfen muss.« So oder so ähnlich haben wir alle schon einmal gedacht – und dann entschieden, diese Gedanken lieber zu ignorieren, da wir uns im Negativen eingerichtet und es dort uns bequem gemacht haben. Uns kann nichts mehr überraschen: Wir rechnen mit unangenehmen Reformen für eine ungewisse Zukunft, die die Gegenwart weiter beschweren. Wir akzeptieren Veränderungen, die liebgewordene Gewohnheiten und Institutionen in Frage stellen. Wir wissen, dass ein schneller werdender Wertewandel zu einer Welt führen wird, in der jeder nur sich selbst der Nächste ist. Wir begrüßen die Zwangsläufigkeit ökonomischer Entscheidungen. Wir freuen uns auf die Einschränkungen der persönlichen Freiheiten, denn sie schützen uns vor Terroristen. Wir warten auf Veränderung. Wir sagen ganz leise: »Irgendwann lässt sich ein Gürtel nicht mehr enger schnallen.« – aber wir hoffen, dass dies niemand als Kritik versteht. Und dann warten wir weiter. Manchmal – ganz selten – kann man noch eine vereinzelte kritische Stimme hören, aber niemand nimmt sie ernst, oder ein Realist lässt sie mit gut formulierten Argumenten bald wieder verstummen.

Vielleicht ist die Zeit ja reif für ein bisschen Widerstand, man könnte ja versuchen, sich zu wehren. Jetzt sofort. Schnell, bevor das Bedürfnis nach gemeinsamem Handeln und Solidarität, der Wunsch nach persönlicher Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten endgültig verschwunden ist. »Es müsste mich doch nur jemand aufrütteln. Es müsste endlich mal eine Frage gestellt werden, die eine Antwort erzwingt. Es müsste nur jemand einen Anfang machen. Immer aufs Neue: »Ich sollte das. Es müsste dies.«

Die meisten von uns sind verhinderte Kämpfer, die ihre Ideen oder Wünsche nicht in die Wirklichkeit entlassen. Es gehört zum Zeitgeist, geschickt allen Konflikten aus dem Weg zu gehen und nirgendwo anzuecken. Das ist bequem. Das machen alle. Doch Streit oder Kampf um Positionen sind nicht destruktiv, denn nur sie können Veränderung und Entwicklung bewirken. Aber um eine Position behaupten zu können, müssen wir uns aus der Schmollecke herauswagen und diese Position erst einmal besetzen. Natürlich ist ein Leben als Kämpfer gefährlich, denn nicht jeder Kampf führt zu einem Sieg. Aber was zählt ist die Geste und nur ein Versuch bringt Erfolg. Wenn wir beginnen, billige Kompromisse durch Konfrontation und Diskussionen durch Entscheidungen zu ersetzen, können wir – jeder für sich und alle gemeinsam! – die Gegenwart wieder selbst gestalten.