Stadttheater im Aufbruch?

Aufbruch im Stadttheater?

 

veröffentlicht in:

ZETT 10-2011, S. 10-11, Bremen 2011.

Von unterschiedlichen Seiten wurde in den vergangenen Monaten das „deutsche Stadttheater“ als Institution, als unzeitgemäßer Produzent künstlerischer Aussagen, als ein überflüssiges Standbein der performing arts, als musealer Hüter überkommener Traditionen oder ganz einfach als zu teuer angegriffen. Diese Angriffe waren zum Teil extrem wütend, zum Teil existenzbedrohend aber in einigen Bereichen leider sicherlich auch berechtigt. Nicht immer waren die Stadttheater aber die richtigen Adressaten, denn über die Vergabe von Projektmitteln für die freie Szene entscheiden nicht die Stadttheater. Und in Städten in denen gespart wird, geht es mittlerweile allen gleichermaßen an den Kragen, ganz gleich ob groß oder klein, frei oder institutionalisiert.

Stadttheater sind noch immer träge Gebilde: Mehrere Hundert Angestellte, die in den unterschiedlichsten Gewerken arbeiten, mehrere Gewerkschaften, die diese Mitarbeiter vertreten sollen, oft mehrere Sparten, die jeweils eigene Ideale und Arbeitsweisen haben, extrem viele Zuschauergruppen, mit ebenso vielen unterschiedlichen Interessen, Dutzende von Produktionen, die alle um die nötige Aufmerksamkeit buhlen ... Die gerne genutzte Metapher des unbeweglichen Tankers ist gar nicht so falsch, schnelles Manövrieren ist fast unmöglich und wenn es denn eine Havarie gibt, ist der Schaden immens.

Aber es ändert sich etwas, langsam zwar, anders sind große Schiffe ja nicht zu steuern, aber immerhin. Die Veränderungen finden in allen Bereichen der großen Betriebe statt, manche sind für das Publikum zu erkennen, manche vollziehen sich unbemerkt. Ob diese Veränderungen ausreichen, um das Überleben dieser weltweit einzigartigen Institute zu sichern, kann noch nicht gesagt werden, aber eine Zukunft hätten sie verdient, denn meistens ist unsere Arbeit nämlich auch schon jetzt besser, aktueller, zeitgemäßer und vor allem aufregender als unser Ruf.

Spätestens seit Mitte der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts vollzieht sich ein kontinuierlicher ästhetischer Wandel im Sprechtheater, mussten damals doch die politischen Verwerfungen in Europa nach '89 dramatisch verarbeitet werden, die gesellschaftlichen Umbrüche in Deutschland sowieso. Nach dem Vorbild der britischen Dramatik wurde plötzlich die aktuelle Lebensrealität von Menschen für die Bühne entdeckt. Die Anzahl der Ur- und Erstaufführungen schnellte nach oben und die neuen Stücke waren insgesamt schneller, schmutziger und sprachlich direkter als ihre Vorgänger. Auch die Spielweisen, der Umgang mit Sprache insgesamt, die Art Klassiker zu erzählen und auch die Bühnenbilder passten sich einer Gesellschaft an, die ohne Ideologien auskommen musste. Zum ersten Mal seit dem Expressionismus, reichte ein traditionelles humanistisches Menschenbild nicht mehr aus, um die Welt zu erklären. Das Theater hörte auf Antworten zu geben, es stellte Fragen. Nach der Jahrtausendwende ergab sich ein weiterer Innovationsschub: Die erstarkte freie Szene wirkte plötzlich stilbildend auf die Stadttheater. Dokumentarisches Theater, Stückentwicklungen, Projekte mit Laien, Inszenierungen im Stadtraum fanden den Weg von den freien Produktionsstätten und Festivals in die Institute. Das Publikum war und ist übrigens nicht in jedem Fall von dem begeistert, was es auf den Bühnen der Stadttheater zu sehen bekommt. Seit ein paar Jahren arbeiten auch die Musiktheater freier, und dort wo die Tanzsparte nicht Ballett sondern Tanztheater heißt, wurden bereits in den Siebzigerjahren innovative Formen gefunden, die ihrerseits noch heute die freie Szene beeinflussen. Aber es wird immer schwerer für ein Stadttheater sich gegen eine „traditionelle“ (und damit seit gut zwanzig Jahren veraltete) Wunschvorstellung weiter Publikumskreise zu behaupten, denn der Druck, Einnahmen zu erzielen, wird kontinuierlich stärker. Trotzdem ist der Weg der ständigen Innovation alternativlos, wenn sich ein Theater nicht von der Weiterentwicklung der darstellenden Künste abkoppeln will, und damit schließlich seinen Existenzzweck selbst in Frage stellt.

Weitere große Veränderungen vollziehen sich in einigen Theatern augenblicklich jenseits der Bühnen, innerhalb der Organisation der Betriebe, die dem Publikum meist verborgen ist. Diese Modernisierungen sind allerdings auch nötig, denn oftmals funktionieren Stadttheater auch heute noch wie Überbleibsel aus dem feudalen Mittelalter. Allein herrschende Intendanten treffen dort Entscheidungen und erwarten von den Mitarbeitern, dass diese unbefragt und möglichst auch unkommentiert umgesetzt werden. Dass sich die Theater so in einem Missverhältnis zwischen den Aussagen auf der Bühne und ihrer eigenen inneren Verfassung bewegen, wird großzügig ignoriert. Langsam, vielleicht zu langsam, ändert sich auch das. Modernere Intendantenpersönlichkeiten, die wissen das Kommunikation nicht nur nach außen nötig ist, dass Entscheidungen erklärt werden müssen und dass es notwendig ist alle Mitarbeiter auf der gemeinsamen Reise zu motivieren, treten auf den Plan. Ihnen ist Glück zu wünschen, dass sie sich gegen eine Konkurrenz behaupten können, die noch immer Wert auf Hierarchien legt, die sich längst überlebt haben.

Hier am Theater Bremen sind wir seit mehr als einem Jahr sogar noch einen Schritt weiter, denn wir versuchen ein augenblicklich einzigartiges Experiment und verzichten ganz auf den Intendanten. Der Ursprung unseres Modells war eine Notsituation, hat doch der ehemalige Intendant das Haus vor Ende seines Vertrages verlassen (müssen). Die Zukunft war unklar, aber der Betrieb hat sich gemeinsam mit der Stadt entschieden, ernst zu nehmen, dass Theater immer eine Gemeinschaftsleistung ist. So wurde eine künstlerische Leitung installiert, die aus den Leitern der einzelnen Sparten besteht und das Theater als Kollektiv führt. So wird garantiert, dass alle vier Sparten gleichberechtigt sind und gemeinsam für das Haus verantwortlich zeichnen. Grenzen zwischen den unterschiedlichen Gattungen werden verwischt, Schranken zur bremischen Bevölkerung werden abgebaut. Und gerade entwickelt sich das Haus wieder von einem Theater in der Stadt zu einen Theater für die Stadt. Wie sich das auf unsere Produktionen und die Atmosphäre auswirkt, lässt sich schwer beschreiben, das muss man erleben.