Theater Bremen - Leitartikel

 

veröffentlicht in:

Theater Bremen - Theatermagazin. 2010-2012.

JETZT

„Ich kann jetzt nicht. Ich habe einen Termin. „ – „Könntest du das bitte jetzt machen. Ich meine sofort.“ – „Hast du jetzt endlich Zeit für mich?“ – „Wieso erreiche ich dich erst jetzt?“

 

Die Uhr tickt. Die Tage sind durchgeplant, manchmal auch verplant. In unserer Gesellschaft wird Zeit zu einer knappen Ressource, die sich nur verbrauchen, nicht erneuern lässt. Wir werden durch Beruf, Familie und alles andere zu Getriebenen, die von Termin zu Termin hetzen und in zunehmenden Maße die Kontrolle über unseren Tag verlieren. Je komfortabler und einfacher mobile Kommunikation wird und je intensiver wir unsere Handys und Smartphones nutzen, desto größer wird der Druck in jeder Minute des Tages erreichbar zu sein und für alles zur Verfügung zu stehen. Dabei lassen wir zu, dass sich unsere unterschiedlichen Lebensbereiche vermischen, denn wir tragen unser Büro nach Feierabend in der Tasche nach Hause und unsere Familie am nächsten morgen in der gleichen Tasche wieder ins Büro. Es wird immer schwerer das Wichtige vom Banalen zu trennen, so entsteht eine undurchdringliche Melange unterschiedlicher Interessen und Ansprüche, die uns dann daran hindert zu sehen und zu erfahren, wie wertvoll für uns als endliche Wesen jeder Augenblick ist. Doch sind Momente der Ruhe nötig, wenn man verhindern möchte durchzudrehen oder von der Gleichwertigkeit aller Anforderungen, die an uns herangetragen werden, in einen Zustand der Lähmung zu verfallen. Einzelne Augenblicke bestimmen unsere direkten Erinnerungen. Aus Bildern, Tönen, Wörtern, Gerüchen setzen wir unbewusst zumeist das persönliche Bild zusammen, das wir von der Vergangenheit haben. Es ist sicherlich wahr, dass man die Vergangenheit auch intellektuell interpretieren muss, um die Zukunft zu gestalten, aber nur Augenblicke können im Menschen Emotionen auslösen – diese Emotionen sind von Dauer. Sie strukturieren unseren Tag und unser Leben.

Wahrscheinlich ist es an der Zeit immer wieder einmal persönlich Widerstand gegen den Terror der Termine zu leisten: Auch wenn es Überwindung kostet, ist es möglich sein Telefon auszuschalten,

Das Theater ist die Kunstform des Augenblicks, des Moments, des unmittelbaren Erlebens. Hier werden andere Zeiten, fremde Welten und notwendigerweise immer unsere eigene Gegenwart reflektiert und Gedanken in eine Form überführt, die von den Zuschauern verstanden, kritisiert – und das macht die Bedeutung dieser Kunstform aus – im Augenblick gefühlt werden können. Die Spielzeit 2010/2011 am Theater Bremen beginnt »jetzt«. (...)

 

 

offen

Glück beruht auf Offenheit. Nur wer es schafft, das anzunehmen, was die Welt ihm anbietet, hat die Möglichkeit Glück zu erleben. Wer jedoch zuviel von seinem Umfeld verlangt und unerfüllbare Ansprüche stellt, wird an der Welt verzweifeln.

Liebe beruht auf Offenheit. Nur wenn zwei Menschen sich freiwillig die gleichen Rechte einräumen und sich den gleichen Pflichten unterwerfen, ist es möglich, dass beide gleichermaßen die Beziehung genießen können. Wenn sich aber einer der beiden über den anderen stellt und Geheimnisse die Gespräche vergiften, wird aus einer Partnerschaft ein unerträglicher Machtkampf.

Freundschaft beruht auf Offenheit – Freiheit beruht auf Offenheit – Gerechtigkeit beruht auf Offenheit ... Alle Bindekräfte einer modernen Gesellschaft lassen sich auf diesen einen Begriff zurückführen und erhalten nur durch ihn ihre wirkliche Bedeutung. Deshalb kann man zusammenfassen: Demokratie beruht auf Offenheit. Nur wenn der Einzelne die Möglichkeiten erhält für sich Entscheidungen zu treffen, ist eine Gesellschaft wirklich frei und demokratisch.

Allerdings gibt es eine dunkle Schwester der Offenheit, die ihre positiven Effekte leicht in Frage stellen kann: die Unsicherheit. Die Hauptaufgabe einer jeden freiheitlichen Gesellschaft, aber auch jeder Paarbeziehung besteht nun darin, Offenheit und Unsicherheit in ein Verhältnis zu bringen, in dem Letztere nicht Überhand gewinnt. Denn wenn das geschieht, wird aus Gleichberechtigung Unterdrückung und aus Freiheit wird Sklaverei.

Während Unsicherheit und Angst die Offenheit von der einen Seite bedrohen, liegt eine weitere Gefährdung in ihr selbst verborgen. „Offen sein“ umfasst „neugierig sein“, „sich selbst gegenüber ehrlich sein“ und natürlich „kommunikationsbereit sein“. Es bedeutet in keinem Fall „beliebig sein“. Die für das Gelingen einer Gesellschaft oder eines einzelnen Lebens erforderliche Offenheit ist immer auch zielgerichtet. Denn das Leben ist kein Supermarkt, der eine unübersichtliche und damit beliebige Auswahl an Möglichkeiten anbietet. Gemeinsam erarbeitete Regeln und Desiderate ordnen die Möglichkeiten – das verkleinert „die Auswahl“ aber definiert gleichzeitig die Welt. In diesem gemeinschaftlich wie persönlich gesetzten Rahmen ist man dann frei zu entscheiden.

Und natürlich beruht auch Kunst auf Offenheit. Eine der Aufgaben künstlerischer Arbeit ist es, immer wieder den beschriebenen Rahmen und die durch ihn entstehenden gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Wenn das Grundgesetz lapidar feststellt: „Die Kunst ist frei“, bedeutet das auch, dass sie naiv oder impertinent sein darf, dass ihre Arbeitsergebnisse nicht einem kulturindustriellen Mainstream gehorchen müssen oder kurz: dass für sie Neugier wichtiger ist als Wissen.

Speziell für das Theater ist Neugier eine der bedeutendsten Voraussetzungen. Nur wenn sich Regisseure, Choreographen und alle Darsteller immer wieder von den Stoffen, mit denen sie sich beschäftigen, überraschen lassen, entstehen Theaterabende, die auch das Publikum in ihren Bann ziehen können. Dabei wissen sie am Anfang der Proben manchmal nicht genau, wie die Premiere aussehen wird. Theaterarbeit ist immer Prozess, und über die gemeinsame Zeit der Proben verändern sich die Produktionen. Jeder einzelne Bühnenkünstler bringt einen Teil seiner Persönlichkeit, seiner Erfahrungen und seiner Träume in die Arbeit ein – und am Ende steht ein einzigartiger Theaterabend. Das macht Theater so kraftvoll und aufregend, nicht nur für die Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne, sondern auch für das Publikum. Theaterproduktionen sind fast lebendige Organismen, sie atmen, sie wachsen, sie können sich verändern. Das Publikum hat dabei in viel stärkerem Ausmaß Anteil an einem Theaterabend, als es weiß. Denn Theater ist Kommunikation in beide Richtungen. Die Reaktionen des Publikums sind auf der Bühne zu spüren. Wenn es die Künstlerinnen und Künstler bei den Zuschauern Emotionen zu wecken, entstehen Wechselwirkungen, die sich nicht proben lassen, und die deshalb überraschen können. Auch deshalb ist ein Theaterabend jedes Mal etwas Neues. (...)