TIF - Leitartikel

 

veröffentlicht in:

Theater in der Fabrik – Monatsspielpläne. Dresden 2001-2004.

ICHERZÄHLER

Als es noch Gott gab, war alles einfacher. Doch die Menschheit hat sich in ein paar hundert Jahren weit entwickelt, und das Alte Testament durch Stuckrad-Barre ersetzt. Das Ergebnis ist, dass die neuen Antworten auf die alten Fragen uns nicht mehr befriedigen können, also befriedigen wir uns lieber selbst, am besten rund um die Uhr. Die angebotenen Mittel dazu sind vielfältig und unübersichtlich: Mode, Körperkult, Sex, Arbeit oder Drogen. Es gibt für jeden von uns eine bewährte Methode, die uns beweist, dass wir existieren. Wenn es nicht so altmodisch und so vermessen wäre, könnten wir von einem neuen Subjektivismus sprechen. Denn Ausgangspunkt und Ziel allen Denkens, allen Strebens ist ausschließlich man selbst. In dem Maße, wie der Einfluss des Einzelnen auf das Geschehen der Welt abnimmt, reduziert sich auch das Interesse an der Welt und am Schicksal der anderen Menschen. Schon das Stellen von Fragen gilt mittlerweile als unschicklich, lieber geht man shoppen. Oder buildet seinen body. Oder hat Angst um die persönliche Zukunft. „Ich muss dringend mal was für mich tun“, gesprochen allabendlich kurz vor Feierabend, könnte das Credo einer Gesellschaft lauten, die längst aufgehört hat gesellig zu sein. Wohin es uns schließlich führen wird, wenn der Einzelne zum alleinigen Bezugssystem wird, in dem keine verallgemeinerbaren ethischen Grundsätze existieren, ist noch nicht abzusehen. Wir sind die Versuchskaninchen in einem Experiment, das von seinen Forschern vergessen wurde. Aber vielleicht ist es tröstlich, dass diese Kaninchen gesund leben und immerhin großen Wert auf ihre Kleidung legen?

 

IMAGESCHADEN

Vorurteile schützen. Mit ihnen finden sich Menschen in der Welt zurecht. Durch den Filter der eigenen Beschränkung nimmt man die Anderen wahr und bringt sie in eindeutig etikettierten Schubladen unter. Einschließlich sich selbst. Jeder hat ein Wunschbild von sich, dem er entsprechen will und für das er geliebt werden möchte. Leider klappt das selten, deshalb treten Menschen in verschiedenen Rollen je nach Situation und Lebenslage auf. Ein Samstag Nachmittag auf der Prager Straße in Dresden zeigt, wie begrenzt deren Auswahl ist. Wenn man die Zeit anhalten könnte, und alle plötzlich still stünden ... Man könnte sie sortieren, die Girlies auf die eine Seite, die echten Männer auf eine andere, die Künstler bilden eine eigene Gruppe, genau wie die Elektrotechnik-Studenten oder Bankkauffrauen. Und so weiter. Ein paar wenige werden übrig bleiben: die Nonkonformisten. Bedeutet das, dass es doch noch Individualität gibt? Wahrscheinlich nicht, vielmehr orientieren sich die Menschen an medial vorgegebenen Mustern. Sie ermöglichen es zu interpretieren und interpretiert zu werden. Diese Selbstoptimierung bedeutet harte Arbeit, die belohnt wird, während das Bemühen wahr und echt zu sein, lächerlich wirkt und gefährlich ist. Maskeraden aufzuführen, miteinander ironisch und symbolisch zu kommunizieren, schützt vor Widerspruch und Unsicherheit. Alles ist ernst gemeint und gleichzeitig nicht. Es gibt immer einen doppelten Boden und wer ihn nicht begreift, bekommt das Etikett Spielverderber, Idiot und Langweiler aufgepappt. Lügen und belügen lassen, sind die Voraussetzungen für ein glückliches Leben. Wer setzt sich freiwillig den Zumutungen eines echten Lebens aus? Bleibt beschränkt und werdet glücklich.

 

NOTWEHR

Die Band Tocotronic beschreibt den Zustand unserer individualisierten Gesellschaft knapp und zutreffend: „Ich bin alleine und ich weiß es und ich find es sogar cool“. Aber die Frage, warum dann Amoklaufen eigentlich kein Volksport ist, beantwortet sie nicht. Ehrlich gesagt, es geht doch niemandem wirklich gut heute. Reduziert auf die neue Dialektik: „Haben oder nicht haben“ finden sich immer mehr Menschen auf der hoffnungslosen Seite wieder: Sie haben nicht. Dabei ist es gleichgültig, ob es Arbeit, Geld, eine glückliche Beziehung oder Gott ist, das ihnen fehlt. Oder ein Urlaub in den Alpen oder gutes Wetter. Eine Selbstdefinition über den Mangel an materiellen oder ideellen Gütern ist jedenfalls sehr viel leichter zu führen, als eine Besinnung auf die eigenen Stärken. Miese Laune und Unzufriedenheit sind so allgegenwärtig, dass ein offenes, lächelndes Gesicht mittlerweile selten zu finden ist und bedrohlich wirkt. „Wieso geht es dem denn gut, und mir nicht? – Wahrscheinlich hat er Premiere World und kann samstags die Bundesliga live sehen, und ich nicht.“ Ständig fühlt man sich unterlegen, fast allen anderen. Die sauer verdienten und trotz allem defizitären Dinge, mit denen man sich umgeben kann, werden mit Argusaugen bewacht. Das kleine private Glück zu dem man noch fähig ist, wird ständig hinterfragt und als vorläufig betrachtet. Ein Morgen ohne Kopfschmerzen ist unheimlich. Auf diesem Nährboden gedeihen alle möglichen Verschwörungstheorien und Entschuldigungsreflexe. Einen Grund für das eigene Unglück findet sich immer, genau wie ein Urheber, aber der ist man sicherlich nicht selbst. Wie schön wäre es, wenn man es endlich allen heimzahlen könnte, die seit Jahren da für verantwortlich sind, dass alles immer schlechter wird. Wie schön wäre es, wenn man irgendjemandem irgendetwas heimzahlen könnte.

 

WELT IST ZIEL.

Das Klima wird sich verändern für die kommenden einhundert Jahre sagen Klimaforscher mit Hilfe komplexer Computermodelle eine deutliche Erwärmung der Erdatmosphäre vorher. Über die Folgen diese Erwärmung herrscht jedoch eine verwirrende Unklarheit. Vielleicht steigt der Meeresspiegel, dann könnten die Malediven im Indischen Ozean, große Teile Hollands in der Nordsee und Venedig in der Adria versinken. Vielleicht wird aber auch der Golfstrom zusammenbrechen, dann könnten die Temperaturen in Europa so deutlich sinken, dass Schneefälle im Juli zur Normalität werden. Aber diese natürlichen zyklischen Temperaturverschiebungen sollten wir wirklich nicht zum Anlass nehmen, unser verständliches Streben nach Wohlstand, Behaglichkeit und wirtschaftlicher Entwicklung in Frage zu stellen. Denn der Mensch als anpassungsfähigste Art der irdischen Fauna wird lernen, in dieser veränderten Welt zu leben. Nachdem sich das Hochwasser in diesem Sommer für unzählige Menschen zu einer existenziellen Katastrophe ausgeweitet hat, ist es an der Zeit endlich geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die die Bevölkerung vor der ungezügelten und gefährlichen Natur schützen können. Da der Transport von Menschen und Waren auf Binnenschiffen mittlerweile ökonomischen Wahnsinn darstellt, zwingt uns nichts mehr in der Nähe eines Flusses zu leben. Und auch die guten Erfahrungen die in Sachsen mit der kurzfristigen Evakuierung ganzer Städte gemacht wurden, weisen den gleichen Weg: Verlassen wir endlich die gefährdeten Gebiete und bauen wir das Land an anderer Stelle wieder auf – schöner als vor dem Hochwasser.

 

WELT IST HEIMAT.

Sonntagsbraten? Braunkohlebriketts? Kirschblüte oder Kirchgang? Himmel und Hölle auf der Straße spielen? Im Wald Staudämme bauen? Heimat bildet sich aus den Erinnerungen an unsere Kindheit und ist dadurch an Orte, Gerüche, Bilder oder Geräusche gebunden, die vergangen sind. Also tragen wir alle unsere Heimat als Illusion mit uns herum, und haben doch ständig das Gefühl sie verloren zu haben. Auch eine spontane Reise in die Geburtsstadt oder ein lange geplanter Besuch bei alten Freunden können sie uns nicht zurück bringen. Was bleibt ist Ernüchterung und Trauer, denn statt der erhofften Kontinuität finden wir immer Veränderung. – Wir sind flexible Menschen geworden, die mobil und modern sein und im Hier und Jetzt leben müssen. Heute sind alles Vergangene und die überkommenen Traditionen, mit denen die Gesellschaft noch immer belastet ist, unwichtig und störend für ein erfülltes und glückliches Leben. Die Frage „woher kommst du“ ist irrelevant, wir müssen vielmehr in jedem Augenblick wissen, wohin wir wollen, und Ziele und Strategien formulieren können. Das Konzept „Heimat“ stellt einen Rettungsanker dar, den wir immer dann auswerfen, wenn wir uns in unserem ruhelosen Leben nach Struktur und Ursprung sehnen. Und immer hinterlässt uns eine solche von vornherein erfolglose Suche nach unseren Wurzeln verunsicherter als zuvor. Wir scheinen immer wieder vergessen zu wollen, dass wir keine Bäume sind. Aber warum setzen wir uns nicht endlich der Schönheit des Chaos aus? Die Gegenwart ist unsere Zeit, die Welt ist jetzt.

 

WELT IST HUNGER.

Die beiden größten Verhinderer jedes gesellschaftlichen oder technologischen Fortschritts sind Zufriedenheit und die Erfüllung aller Wünsche. Ohne Mangel und zusätzlich Bewusstsein für diesen Mangel ist keine politische, wissenschaftliche oder auch nur private Veränderung denkbar. Eine Gesellschaft, in der die Bedürfnisse der Bevölkerung ganz oder weit gehend befriedigt sind, wird in einen Zustand der Stagnation eintreten, der keinen Ausblick auf eine bessere Form des Zusammenlebens mehr ermöglicht. Utopien werden damit bedeutungslos, denn wenn kein Wunsch unerfüllt bleibt, wird auch kein gemeinsames Ziel mehr zu formulieren sein. Vollbeschäftigung, das reibungslose Funktionieren eines Gesundheitssystem, bezahlbare und verständliche Bahnpreise, Freiheit der Rede, geringes Briefporto, eine ausreichende Verteilung von Lebensmitteln und Konsumgütern, gleiche Bildungschancen für alle auf hohem Niveau, freie Wochenenden ... Niemand kann sich wünschen, in einem Staat zu leben, der seinen Bürgern diese - heute paradiesisch anmutenden - Lebensumstände anbieten kann. Die Auswirkungen wären furchtbar, es sind politische Stabilität, Mittelmaß und Langeweile. Kreative oder progressive Stellungnahmen zu diesem System wären unnötig, verschwendete Zeit. Aber der Mensch ist glücklicherweise ein Wesen, das Glück nicht erträgt. Und der Mangel am Mangel führt schließlich zur Erfindung von Feinden und Gegnern, die das Leben oder die Freiheit oder wenigstens den Wohlstand bedrohen. Und auch eine konstruierte Bedrohung kann einen glücklichen Menschen endlich wieder in den Zustand der Unzufriedenheit und Angst überführen, der aus einem bequemen ein lebenswertes Leben macht.

 

WELT IST GOTT.

Die Geschichte konnte dem Menschen nichts lehren. Jedenfalls scheint es so zu sein, denn in den vergangenen Jahrhunderten war es zwar möglich, die eine oder andere Krankheit zu heilen, das Leben für die Wohlhabenden leichter zu machen oder auch in weiten Teilen der Welt Freiheit und Mitbestimmung zu etablieren. Aber diese durchaus positiven Entwicklungen können nicht überdecken, was der Mensch in Wirklichkeit ist: ein von Grund auf unmenschliches Wesen, das sich im Spannungsfeld zwischen Eigen- und Gruppeninteresse immer für das eigene Wohl und den persönlichen Vorteil entscheidet. Selbstverständlich ist diese Erkenntnis schmerzlich, und da der Mensch Schmerz nicht erträgt, hat er zuerst Metaphysik und den Glauben und später Ideologien erfunden, um seine egoistischsten Handlungen zu rechtfertigen. Denn so wird das Leben einfach! Glaubensgewissheiten geben dem einzelnen Menschen den Rahmen vor, innerhalb dessen er seine unmenschliche Natur frei entfalten kann, und sie entbinden ihn gleichzeitig von der Verantwortung und Haftung für seine Taten. Der Glaube liefert Entschuldigungen und Rituale der Reinigung und Reue. Der Glaube liefert Feindbilder. Kaum eine Begründung für einen bewaffneten Konflikt kommt ohne den Beistand oder Segen einer höheren Macht aus. Alle Kriege des 20. Jahrhunderts waren „gerecht“ oder „heilig“, wenigstens in der Selbsteinschätzung der kriegführenden Parteien. Und eine ehrliche Bewertung ihrer Motive und Ziele erforderte einen historischen oder ideologischen Abstand. - Auch wenn wir uns heute gern für modern und aufgeklärt - für Realisten - halten: 9-11 und alle Reaktionen darauf beweisen, dass das „Gott will es!“ der Kreuzzüge noch immer brandaktuell ist.

 

WELT IST WEIN.

Jeden Morgen ein Blick in die Tageszeitung ... Jeden Abend um acht im Fernsehen die Nachrichten ... Mehr braucht es nicht, um an der Welt zu verzweifeln. Meistens kann auch der eigene Kontoauszug nicht restlos zufrieden stellen. Aber vergessen wir über diese Strapazen und Schwierigkeiten nicht, dass der Mensch ein sterbliches Wesen ist und nur einmal lebt! Und er bekommt viel zu selten eine zweite Chance, um Zeit und Mühe für einen bedauernden Blick zurück zu verschwenden. Deshalb sollte er alles, was ihn bedrücken oder ängstigen könnte, fröhlich und freundlich hinnehmen und klaglos ertragen. Er sollte alles vergessen, was er als persönliches Unglück oder gesellschaftliche Ungerechtigkeit betrachtet, und sich lieber über die Aufgaben freuen, die ihm das Schicksal oder seine Mitmenschen aufgeben. Wenn er sein Dasein als Spiel betrachtet, in dem es nur Gewinner gibt, wird es leicht, mit den unschönen Realitäten des Alltags umzugehen, die er mit seinen beschränkten Fähigkeiten doch nicht ändern kann. Der Mensch muss lernen, im richtigen Augenblick die Augen vor der Welt zu verschließen. Da es keine bleibenden Antworten auf die wichtigen Fragen: „Warum lebe ich?“, „Was wird morgen sein?“, „Wie soll ich meine Schulden bezahlen?“ oder „Liebt mich mein Partner wirklich?“ geben kann, sollte er sie auch nicht stellen. Solche Fragen lenken nur von dem ab, was im Leben einzig bedeutsam ist. Wir müssen uns täglich einreden, dass unser Leben ein ständiges Fest und ein immer währender Sommer ist, dann haben wir eine kleine Chance glücklich zu sein. Nur wenn wir mit einem Lächeln oder besser noch mit einem lauten Lachen durch die Welt marschieren, können wir sie eventuell auch nüchtern ertragen.

 

[Stress]

Zwischen dem Weckerklingeln am Morgen und dem späten Schlafengehen in der Nacht gehorcht die Generation der Mitte-20- bis Mitte-50-jährigen jeden Tag – Jahr für Jahr – einem strengen und unbeeinflussbaren Stundenplan. Dadurch werden erwachsene Menschen wieder zu Schulkindern. Sie werden entmündigt und können über die Einteilung ihrer Zeit nicht selbst bestimmen, denn es gibt einfach zu viele Instanzen, die mit ihren Ansprüchen und Zielvorgaben die Freiheit des einzelnen beschneiden und jede Handlung bewerten und benoten. Arbeitgeber oder Universität, Familie und Partner, Freunde oder das übliche Konsumverhalten einer bestimmten Gruppe. Der gesellschaftliche Konsens verlangt nun, dass man flexibel alle diese Ansprüche ernst nimmt und immerfort in Bewegung bleibt – so wird das Leben zu einem zu einem unplanbaren Hindernisrennen. Doch so sehr man sich auch bemüht, ständig ist man in Gefahr, Fehler zu begehen, denn Perfektion ist keine menschliche Eigenschaft. Jedes Fehlverhalten und jede Übertretung des engen Zeitplans werden registriert, jeder Versuch auf die eigene Unabhängigkeit zu bestehen wird vermerkt. Regelmäßige Unpünktlichkeit führt dann schnell zum Verlust des Arbeitsplatzes, und nachgewiesene Unzuverlässigkeit bringt auch die besten Freunde dazu, sich zu distanzieren. In diesem Gefüge, das nur durch Druck und gegenseitige Kontrolle funktionieren kann, müssen alle rennen, um ihre Termine einzuhalten. Die Pausen sind genau vorgeschrieben und dienen ausschließlich dazu, erneut Kraft zu tanken, um im nächsten Wettlauf wieder ganz vorne dabei sein zu können. Denn wer sich erlaubt, außer der Reihe anzuhalten, wird unweigerlich verlieren und muss wieder ganz am Anfang beginnen. In unserer Gesellschaft sind Freiheit oder Freizeit Illusionen, die zwar immer wieder gern beschworen werden. Sie sind jedoch unerreichbar, da es keine Möglichkeiten gibt, sich dem Druck von allen Seiten zu entziehen. Und nur die wenigsten bringen den Mut auf, auszusteigen und so dem System zu entfliehen. Außerdem scheint es augenblicklich keine gesellschaftliche Utopie zu geben, die stark oder verführerisch genug ist, um die herrschenden Regeln zu erschüttern. Also passt man sich an so gut es eben geht, und rennt weiter. Da ein Ausweg dauerhaft verstellt ist und alle gleichermaßen unter Druck stehen, reagieren alle gleich: Aggressiv bemühen sie sich ihn breit zu verteilen. Denn die eigene Einflusslosigkeit lässt sich umso leichter ertragen, je stärker man andere in ihren Freiheiten einschränken kann. So werden alle zu Despoten. Das macht natürlich auch nicht wirklich glücklich, aber Schadenfreude und Häme sind ganz erträgliche Emotionen, wenn die positiven Entsprechungen unerreichbar sind. Und warum soll es einem anderen denn besser gehen?

 

[Zwang]

Der Mensch ist frei geboren und liegt doch überall in Ketten. Manche davon sind aus Stahl, aber die meisten bestehen aus Papier oder unkörperlichen Gedanken. Abschütteln lassen sie sich jedoch niemals, sofern man nicht entscheidet, sich völlig aus der Gemeinschaft der anderen zu entfernen. Freiheit ist Illusion und eine selbst bestimmte Persönlichkeit eine romantische Erfindung. Denn sobald zwei Menschen aufeinander treffen, werden Verträge geschlossen, die den Umgang der beiden regulieren und Konflikte verhindern. Wird die Gruppe größer, werden die Regeln strenger. Und irgendwann beginnt man, sie aufzuschreiben. „Du sollst ...“, „Du sollst nicht ...“ - zwischen diesen Polen schwanken alle Menschen durch den Tag. Manchmal sind die Ansprüche auch vor sichtiger formuliert. Einmal heißt es: „Es wäre schön, wenn ...“ Ein anderes Mal hört man: „Wurdest du bitte nicht immer ...“ Das Auflehnen gegen die Konventionen und Werte einer Gesellschaft ist zwar ein von allen Jugendlichen aller Generationen gern geübter Brauch, aber auch das gewollt Unkonventionelle schafft neue Werte, die dann in einer Gruppe weitergegeben werden und ihr Funktionieren steuern, und denen man sich dann dankbar unterwirft. Man kann sich gegen erzwungenen Respekt vor den Eltern auflehnen, beginnen, sie beim Vornamen zu nennen (man nimmt sie ja seit Jahren schon nicht mehr ernst) und regelmäßig Stunden zu spät nach Hause kommen ... Aber man wird trotzdem im Zusammenleben mit den Freunden zuverlässig sein und Berechenbarkeit verlangen. Man kann später im Leben dann beweisen, dass man die Fehler seiner Eltern nicht wiederholen wird, und seinen Kindern alles erlauben. Man zeigt großes Verständnis und findet plausible Erklärungen, wenn sie das Familiensilber auf dem Flohmarkt verscherbeln, ihre Zigaretten auf dem neuen Teppichboden im Wohnzimmer ausdrücken oder die Hauskatze in der Mikrowelle trocknen ... Aber man wird sich jedes Mal schrecklich ärgern, wenn sie zwanzig Minuten nach der vereinbarten Zeit heimkommen. Und sicherlich wird man von seinen Arbeitskollegen Pünktlichkeit, Höflichkeit und Professionalität erwarten. Man wird es der Verkäuferin in der Bäckerei übel nehmen, wenn sie lieber Zeitung liest als Brötchen zu verkaufen. Jede Zugverspätung wird man dem Schaffner vorwerfen. Und die Nachbarin, die jeden Tag Klavier spielt, obwohl sie es nicht kann, hasst man ohnehin schon seit Jahren. - Regeln, Konventionen, Normen, Gesetze und Vorschriften gehören zum Alltag und ermöglichen ein Leben ohne Frust und Ärger. Nur durch sie erreicht man Zufriedenheit, denn Freiheit, so heißt es, sei die Einsicht in die Notwendigkeit.