Alles auf Anfang

 

veröffentlicht in:

Theater heute, Oktober 2002, S. 67-68.

Berlin 2002.

„Jahrhundertflut. Jahrtausendhochwasser. Eine Katastrophe von biblischen Ausmaßen.“ – In den vergangenen Wochen war es ziemlich schwer solchen Superlativen aus dem Weg zu gehen, die nichts weiter zeigten als das zunehmende Verstummen hilflos beschreibender Journalisten. Mit den steigenden Pegeln in Pirna, Dresden, Meißen, Wittenberge und Dessau wurde auch die Berichterstattung über das Hochwasser an der Elbe und ihrer Nebenflüsse drastischer. Da sich die Bilder unweigerlich wiederholten, Wasser bleibt eben Wasser und ein zerstörtes Haus in Grimma unterscheidet sich für den Fernsehzuschauer nur unwesentlich von einem anderen in Wesenstein, militarisierte sich der Ton der Kommentare. Außerdem hatte ja gerade ein heißer Wahlkampf begonnen. Der sorgte zwar dafür, dass sich die Spitzenpolitiker des Landes auf gefährdeten Deichen extrem nahe kamen, aber verhinderte auch eine schnelle und konstruktive Einigung der unversöhnlichen Gegner darüber, wie den Opfern des Hochwassers denn nun geholfen werden könnte. Die sächsische Perspektive deckt sich nun überhaupt nicht mit der Sprachartistik der Wahlkämpfer. Hier direkt an der Elbe ist es ziemlich gleichgültig, ob eine Verschiebung von Steuersenkungen Steuererhöhungen bedeutet oder nicht, hier ist die Aufbauarbeit der vergangenen zwölf Jahre in wenigen Tagen weggespült worden. Hilfe ist nötig. Und auch die nur mittelbar Betroffenen, die ihren Kaffee mit Mineralwasser kochen und jeden Tag gezwungen sind, weite Umwege zur Arbeit zu fahren, verlieren angesichts ergebnisfreier Fernsehduelle ihren letzten Glauben in den Gestaltungswillen der Bundespolitik. Den wirklichen Opfern bleibt im Augenblick noch vieles erspart, denn die haben glücklicherweise keinen Fernseher mehr. Dresden ist eine schöne Stadt und gibt natürlich eine gute Kulisse für Katastrophenberichte ab, aber das Hochwasser war und ist für uns Dresdner kein Medienphänomen, und keine beliebige Metapher für den Zustand der Welt. Hier ist das Hochwasser eine existenzbedrohende Realität. Es hat Folgen, die sich noch für lange Zeit auf weite Bereiche des täglichen Lebens erstrecken werden. Und auch nachdem sich die Elbe wieder zurückgezogen hat, ist Dresden noch weit von der Gelassenheit entfernt, die in normalen Zeiten den besonderen fast südländischen Reiz dieser Stadt ausmachen. Die Situation am Staatsschauspiel Dresden mag dafür als Beispiel gelten.

 

Die neue Spielzeit war gerade einen Tag alt, als sich der beschauliche, kleine Fluss Weißeritz entschloss, sein altes Bett wieder zu beanspruchen. In wenigen Stunden waren der Ortsteil Friedrichstadt und Teile der Altstadt überflutet. Ein Sechstel Dresdens war von der Stromversorgung und vom Telefonnetz abgeschnitten. Die Stadtverwaltung löste in der Nacht vom 12. auf den 13. August Katastrophenalarm aus, und das noch lange bevor der Elbe-Pegel im Stadtgebiet einen kritischen Stand erreichte. – Alle Spielstätten, Probenbühnen und Büros des Staatsschauspiels waren betroffen und nicht zu betreten. Das Schauspielhaus ragte als Insel aus dem übergelaufenen Zwingerteich, im Schlosstheater war das Untergeschoss mit sämtlichen Funktionsräumen geflutet und das Theater in der Fabrik, direkt an der Weißeritz gelegen, war nicht mehr ohne Boot zu erreichen. An eine vollständige Aufstellung der Schäden war jedoch noch lange nicht zu denken. Die gerade wieder begonnenen Proben waren plötzlich unterbrochen, und auch wenn im Grunde sehr klar war, dass dieses Hochwasser nur ein Vorspiel für die Flutwelle darstellte, die wir vom Oberlauf der Elbe zu erwarten hatten, konnte man in den ersten Stunden die naive Überzeugung spüren: „Es wird schon bald wieder weiter gehen.“ Wir wurden von dieser Störung des Alltags überrascht, und die veränderten Ansichten bekannter Gebäude oder Straßenzüge hatten in der ersten Zeit einen durchaus morbiden Reiz. Wir waren fasziniert. Hochwasser ist jedoch weder ein ästhetisches noch ein philosophisches Phänomen. Es war bereits am zweiten Tag nicht mehr lustig und erwies sich schließlich als ausdauernder und hartnäckiger als erhofft. Es wollte die Stadt auch dann nicht verlassen, als es seine anfängliche Faszination für uns längst verloren hatte. Für die Zeit der Flut passten wir Dresdner uns den erschwerten Lebensumständen an, denn wir konnten uns nur mit unzulänglichen Mittel wehren. Evakuierungen waren genauso selbstverständliche Realität wie Helikopterlärm, Stromausfälle und leere Geldautomaten. Es wurde plötzlich wichtig, auf welcher Seite des Flusses man sich befand, denn wir mussten damit jederzeit rechnen, dass die Elbe-Brücken gesperrt würden. Sandsäcke, Rettungskräfte und Pumpen begannen, das Stadtbild zu bestimmen. Wir akzeptierten klaglos die zusammengebrochenen Mobilfunknetze und waren dankbar wenn der heimische Festnetzanschluss noch funktionierte. Wir sparten Trinkwasser und sahen es mit stiller oder lautstarker Genugtuung, dass die Polizei es Katastrophentouristen untersagte, an den Sandsackbarrieren stehen zu bleiben, um zu fotografieren. Wenn die Nachbarn bereits pumpten, begann der Tag mit einem Blick in den Keller. Unsere Ohnmacht angesichts des unaufhaltsam steigenden Wassers führte zu einem schwarzhumorigen Fatalismus, der sich mal mit Wut, aber meist mit dem trotzigen Willen mischte, der steigenden Elbe zu widerstehen. Und obwohl wir ihnen keinen Glauben mehr schenken konnten, wurden die morgendlichen Wetter- und Pegelvorhersagen zu den wichtigsten Nachrichten des Tages. Erstaunt nahmen wir wahr, dass sich unser Zeitgefühl veränderte und sich die Stunden, mit dem zusammenbrechenden Verkehr in der Stadt und der relativen Stille, spürbar zu dehnen begannen. Es war auf seltsame Weise absurd, in dieser Situation zu versuchen, sich auf die Theaterarbeit zu konzentrieren. Trotzdem war es möglich. Die Theaterleitung verlegte ihre regelmäßigen Sitzungen in ein Café in der Dresdner Neustadt. Die Betriebsorganisation, die Pressearbeit, die Dramaturgie wurden in die trockenen Privatwohnungen der Mitarbeiter verlegt. Die Landesbühne Sachsen in Radebeul, Privattheater und andere Institutionen in Dresden, die von der Elbe verschont blieben, stellten Probenmöglichkeiten zur Verfügung. Und die erste Produktion des TIF in dieser Spielzeit fand für 10 Tage Asyl in der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz in Berlin. Die Arbeit konnte weiter gehen, auch wenn von allen Angestellten des Theaters ein Höchstmaß an Improvisation gefordert war.

 

Das Ziel aller Bemühungen hieß nun, die projektierten Premieren zu retten und wenn es sich als notwendig erweisen sollte, in Interimsspielstätten auszuweichen. Eine gleichzeitig idealistische wie pragmatische Planung, und fast jeder der betroffenen Regisseure war bereit dazu, seine Konzeption den sich verändernden Bedingungen anzupassen. Als deutlich wurde, dass Horváths „Jüngster Tag“ als Eröffnungspremiere nicht im Schauspielhaus stattfinden würde, und dafür das Festspielhaus in Hellerau als Ersatz gefunden war, konnte Michael Thalheimer diesen Schritt schließlich nicht mitgehen. Nach kurzer Probenzeit erschienen ihm der Raum zu dominierend und die Akustik zu schlecht. Vielleicht sollte Solidarität manchmal wichtiger sein als Kunst, aber die moralische Messlatte liegt augenblicklich in Dresden natürlich sehr hoch. Das Wasser von Weißeritz und Elbe benötigte nicht einmal zwei Wochen, um große Teile der Stadt zu verwüsten, Straßen umzugraben, Zeitungsarchive zu vernichten, die Abwasserentsorgung zu unterbrechen. Mittlerweile ist die Stadt wieder trocken und die Zerstörungen sind sichtbar geworden. Es stinkt nach Benzin und Müll. Das heiße Wetter der vergangenen Tage hat den Schlamm, den das Hochwasser auf den Dresdner Straßen zurückgelassen hat, in einen feinen hellbraunen Staub verwandelt. Und die Erinnerungen von Jahrzehnten sind endgültig verloren, sie verrotten dreckverkrustet auf den Bürgersteigen und warten auf die Müllabfuhr. Die Schäden an den Gebäuden des Staatsschauspiels sind erheblich. Ein erstes Gutachten bilanziert nach dem Abpumpen von 26.000 Kubikmetern Wasser aus der Unterbühne knapp und mit erschreckender Objektivität für das Schauspielhaus: „Bühnentechnik 70% zerstört – Elektrotechnik Starkstrom 60% zerstört – Elektrotechnik Schwachstrom 90% zerstört – Heizung, Lüftung, Sanitär, Kälte 50% zerstört – Gebäudeleittechnik 90% zerstört.“ Diese kalten Zahlen scheinen den Schaden handhabbar zu machen. Man kann sie verstehen, denn sie verschleiern die Details und unterschlagen die außerdem betroffenen Bühnenbilder, Kostüme, Requisiten. Einrichtungen der Tonabteilung. Möbel. Scheinwerfer. Dekomaterialien. Pyrotechnik. Musikinstrumente. Computer. Werbeträger. Das Schlosstheater wird für Monate ohne reguläre Stromversorgung bleiben, und einige Bereiche des Theaters in der Fabrik sind noch immer wegen durchaus realer Einsturzgefahr gesperrt. Dort hatte die Weißeritz die Fundamente teilweise unterspült und sich einen Weg ins Untergeschoss gebahnt. Die vollständige Beseitigung der Hochwasserfolgen in allen Gebäuden des Staatsschauspiels und in den von Staatsoper und Schauspiel gemeinsam genutzten Werkstätten wird Monate in Anspruch nehmen und sicherlich deutlich über 10 Millionen Euro verschlingen. Im schlimmsten Fall wird die Bühnentechnik des Schauspielhauses erst nach der kommenden Sommerpause im August 2003 wieder vollständig übergeben werden können. Eine langfristige Kapitulation vor dem Wasser wurde allerdings nie ernsthaft diskutiert, denn wir sind uns einig: ein Theater muss spielen. Für hat eine Zeit des „trotzdem“ begonnen. Alle Spielstätten sollen so schnell wie möglich und trotz aller Schwierigkeiten den Betrieb wieder aufnehmen. Unter schwersten Bedingungen haben nun die Aufräum- und Sanierungsarbeiten begonnen. Die Kollegen aller Abteilungen rücken zusammen und müssen Unglaubliches leisten, um die kleinsten Fortschritte zu machen.

 

Aber trotz allem: Die Eröffnungspremieren dieser Spielzeit konnten am ersten Septemberwochenende stattfinden.